Mit der jährlichen Auszeichnung Top 40 unter 40 werden junge Führungskräfte in der Pflege aus, die bereits zu den führenden Akteuren der Pflege gehören, wichtige Aufgaben im Pflegemarkt übernehmen und Innovationen vorantreiben. In diesem Jahr zählt auch Stefan Seidl, Einrichtungsleiter der AWO Bezirksverband Weser-Ems, zur Auswahl der Top 40 unter 40. Wir haben in einem exklusiven Interview mit ihm unter anderem darüber gesprochen, welche Herausforderungen als Führungskraft bestehen, wie er zum Einsatz digitaler Tools steht und welche technologischen Entwicklungen die Pflege entlasten könnten.

Was war Ihre bisher größte Herausforderung als Führungskraft – und wie haben Sie sie gemeistert? 

Seidl: „Die größte Herausforderung ist in meinen Augen der Alltag. Wir wollen zwar die Bewohner*innen täglich mit viel Engagement und Qualität umfassend durch ihre wohl letzte Lebensphase begleiten. Leider ist auch hier die zur Verfügung stehende Zeit für jede einzelne Betreuungs- und Pflegekraft begrenzt. Umso großartiger ist es, dass unser Team vor Ort es dennoch immer wieder schafft und insbesondere schaffen will, den Bewohner*innen mit vielen zusätzlichen Angeboten ein rundum schönes Zuhause zu bieten.“ 

Wie hat sich Ihre Sicht auf Führung in der Pflege seit Ihrem Einstieg verändert? 

Seidl: „Der Weg von der Pflegehilfskraft ins Management war für mich aufschluss- und lehrreich. Er hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Mit nun zweijähriger Erfahrung in dieser Position weiß ich: Alles steht und fällt mit dem Zusammenhalt der Leitungskräfte. Wir müssen uns gegenseitig stützen und gemeinsam an unserem wichtigsten Ziel arbeiten – der bestmöglichen Versorgung unserer Bewohner*innen. Sie sind der Grund, warum es Pflege überhaupt gibt. Das Dachgeschoss ist wichtig, aber ein Gebäude braucht ein stabiles Fundament – und das sind unsere Mitarbeiter*innen vor Ort, die jeden Tag eine enorm wichtige Arbeit leisten.“ 

Welches Buch oder welchen Podcast würden Sie jungen Führungskräften in der Pflege empfehlen? 

Seidl: „Wichtig ist, Klarheit darüber zu haben, was man selbst möchte. Deshalb empfehle ich jedem die Pinguin-Geschichte von Dr. Eckart von Hirschhausen – sie zeigt, wie man seine Stärken erkennt und nutzt. Fachlich orientiere ich mich an fundierter Literatur wie Management im Gesundheitswesen von Prof. Dr. Wolf Rogowski, um die Balance zwischen Menschlichkeit und professioneller Steuerung zu halten.“ 

Welche strukturellen Probleme in der Pflege sind Ihrer Meinung nach noch zu wenig im Fokus? 

Seidl: „Aus meiner Sicht wird zu wenig über die gesetzlichen Rahmenbedingungen gesprochen, die den Alltag doch erheblich beeinflussen. Dazu gehört eine realistische und verankerte Personalbemessung, die ganzheitliche Digitalisierung und flexiblere gesetzliche Vorgaben, die auch Innovation im Alltag ermöglichen. Das alles sind gewichtige Punkte, aus denen sich schlussendlich ein Fokus auf die Entlastung und damit die Gesundheit der Kräfte ergibt. Wenn wir hier ansetzen, können wir die Pflege nachhaltig verbessern.“ 

Wie erleben Sie den Einsatz digitaler Tools in Ihrer Einrichtung – eher als Hilfe oder als Belastung? 

Seidl: „Technologie ist kein Ersatz für Pflegekräfte, sondern eine wertvolle Unterstützung. Bei richtiger und punktueller Nutzung können Innovationen und digitale Lösungen dazu beitragen, die Pflege zukunftssicher zu machen. Der direkte menschliche Kontakt bleibt das Herzstück der Pflege – daran wird sich nichts ändern. Aber intelligente Assistenzsysteme und Entlastungsmaßnahmen schaffen Zeit für das Wesentliche: die persönliche Zuwendung. So verbinden wir Fortschritt mit Menschlichkeit.“  

Welche technologischen Entwicklungen könnten Ihrer Meinung nach die Pflege wirklich entlasten? 

Seidl: „Wir brauchen Technologien, die Pflegekräfte wirklich entlasten. Dazu gehören sprachbasierte Dokumentationssysteme, die nahtlos in bestehende Dokumentationslösungen integriert werden müssen. Sensorik und Frühwarnsysteme, die Bewegungsmuster erkennen, können helfen, präventive Maßnahmen einzuleiten. Ebenso wichtig ist eine Echtzeitkommunikation per App, die Schnittstellen wie die Telematik-Infrastruktur verbindet. Zusammengefasst: Wir benötigen Systeme, die nachhaltig Zeit schaffen – damit Pflegekräfte wieder mehr Zeit für den persönlichen Kontakt zu den Bewohner*innen finden.“  

KI ist weiterhin ein Buzzword – Welche KI-Lösung würden Sie heute nicht mehr hergeben? 

Seidl: „Entlastung darf nicht nur in der direkten Pflege stattfinden, sondern auch im Management. Auch dort wird mehr Zeit für das Fundament unseres Berufes – die Mitarbeiter*innen – benötigt. Sie sind es, die Tag für Tag dafür sorgen, dass unsere Bewohner*innen ein Zuhause erleben. Dies bekanntlich ganz im Sinne der gesamten Gesellschaft. Gleichzeitig müssen wir die Arbeitsbedingungen so gestalten, dass Pflegekräfte geschützt und unterstützt werden. Nur so gewinnen wir nachhaltig Fachkräfte und machen die Pflege zukunftssicher. Digitale Helfer wie KI-gestützte Systeme – ob Sprachdokumentation oder intelligente Planung – sind dabei wertvolle Partner, die uns Zeit für das Wesentliche zurückgeben.“  

Welche Trends werden Ihrer Meinung nach die Branche am stärksten prägen? 

Seidl: „Die voranschreitende Digitalisierung.“ 

Welche Entwicklungen im Markt beobachten Sie aktuell mit besonderem Interesse? 

Seidl: „Wie wir bestmöglich Mitarbeiter*innen gewinnen können, um die nachhaltige Versorgung der kommenden Generationen zu sichern.“  

Was möchten Sie als Führungskraft in den nächsten Jahren aktiv mitgestalten? 

Stefan Seidl: „Es stehen viele Projekte in unserem Bezirksverband an, an denen ich aktiv teilnehme. Unter anderem werden wir die Ausbildung neuer Fachkräfte weiter gemeinsam ausgestalten, um uns zukunftssicher aufzustellen. Weiterhin stehen in der Einrichtung neue Projekte wie ein einheitliches Versorgungskonzept an – hierbei wird unser Team vor Ort viel im Bereich des Changemanagements interagieren müssen. Das ist kein einfacher Prozess, aber ein allemal lohnenswerter.“  

Über den Interviewpartner

Stefan Seidel von der AWO Bezirksverband Weser-Ems Top 40

Stefan Seidl

Pflege braucht eine starke Zukunft. Bei der AWO Weser-Ems ist es unser Ziel, den Alltag für Bewohnerinnen und Bewohner so würdevoll und selbstbestimmt wie möglich zu gestalten. Gleichzeitig wollen wir unsere Mitarbeitenden entlasten – durch klare Strukturen, digitale Unterstützungen und innovative Ideen, die wirklich im Alltag helfen. Für uns zählt nicht nur heute, sondern auch morgen: Wir schaffen Lösungen, die Bestand haben.“