Mit der jährlichen Auszeichnung Top 40 unter 40 werden junge Führungskräfte in der Pflege aus, die bereits zu den führenden Akteuren der Pflege gehören, wichtige Aufgaben im Pflegemarkt übernehmen und Innovationen vorantreiben. In diesem Jahr zählt auch Irina Zimmermann, Regionalleitung bei der compassio B.V. & Co. KG, zur Auswahl der Top 40 unter 40. Wir haben in einem exklusiven Interview mit ihr unter anderem darüber gesprochen, welche technologischen Entwicklungen ihrer Meinung nach die Pflege entlasten könnten, welche KI-Lösung sie heute nicht mehr hergeben würde und welche Entwicklungen sie in der Pflege aktuell mit besonderem Interesse beobachtet.
Was war Ihre bisher größte Herausforderung als Führungskraft – und wie haben Sie sie gemeistert?
Zimmermann: Die größte Herausforderung bestand darin, die siebzehn Einrichtungen der Region in die `compassio` zu integrieren. Weil es einiges aufzuholen gab, stellte das eine besondere Aufgabe dar. Wir unterstützten Führungskräfte bei nötigen Anpassungen, beispielsweise bei der IT und beim Catering. Auch unsere Qualitätsstandards zogen wir dabei nach. Das gelang vor allem durch eine sehr genaue Analyse der Lage in jeder Einrichtung. Wir bezogen die Führungskräfte durch Workshops und detaillierte Arbeit mit ein, was trotz der notwendigen Distanz zum Mikromanagement in meiner Rolle als Regionalleiterin erforderlich war.
Wie hat sich Ihre Sicht auf Führung in der Pflege seit Ihrem Einstieg verändert?
Zimmermann: Führung basiert jetzt stärker auf Zahlen. Obwohl ein gutes Bauchgefühl weiterhin wichtig bleibt, bereiten Führungskräfte sich jetzt mithilfe von Kennzahlen auf Besprechungen mit Einrichtungsleitungen vor; so argumentieren sie faktenfundierter. Das hat sich in den letzten zwanzig Jahren stark gewandelt. Bei compassio besitzt wir Tools um viele Kennzahlen darzustellen um diese zu analysieren, die Führung unterstützen.
Welches Buch oder welchen Podcast würden Sie jungen Führungskräften in der Pflege empfehlen?
Zimmermann: Bessere Beziehungen durch das DISIG Modell. Unser Unternehmen gab das Buch an alle Führungskräfte aus. Kurz gesagt, es enthält die Grundlagen für Führung. Im Arbeitsalltag treten Konflikte auf. Ein produktives Ergebnis verhindern oft persönliche Eigenheiten sowie Gefühle wie Wut, Ärger oder Angst. Das DISIG Modell bietet ein besseres Verständnis menschlicher Verhaltensweisen. Das gestaltet Zusammenarbeit aber auch Leben im Umfeld positiv.
Welche strukturellen Probleme in der Pflege sind Ihrer Meinung nach noch zu wenig im Fokus?
Zimmermann: Fragt man eine KI nach den zentralen Herausforderungen im Pflegewesen, werden nach wie vor Personalknappheit, Überlastungsphänomene, inadäquate arbeitsorganisatorische Rahmenbedingungen, defizitäre Vergütungsstrukturen sowie vermeintliche Barrieren in der beruflichen Qualifizierung angeführt.
Die Thematik der Vergütung ist aus meiner Perspektive jedoch weitgehend obsolet. Seit Implementierung des RüE besteht eine signifikante Harmonisierung der Entlohnungsstrukturen, sodass wir Bewerberinnen und Bewerber primär durch zusätzliche Kompetenzprofile und institutionelle Qualitätsmerkmale überzeugen müssen. Auch seit der Einführung von Pebem konstatiere ich keinen substanziellen Personalmangel mehr, da die Berechnungsschlüssel eine bedarfsgerechte und regelkonforme Versorgung gewährleisten.
Schichtarbeit pauschal als strukturelles Problem zu deklarieren, halte ich ebenfalls für eine unzureichend differenzierte Betrachtung. Gleiches gilt für die häufig postulierten Weiterbildungsbarrieren, die ich – jedenfalls innerhalb von compassio – nicht erkennen kann. Für alle Mitarbeitenden, die förderungsfähig und förderungswürdig sind, existieren qualifizierte Entwicklungs- und Qualifizierungsangebote, beispielsweise im Bereich der Praxisanleitung, der Wohnbereichsleitung oder der Einrichtungsleitung.
Persistierend hingegen bleibt das Problem der administrativen und regulatorischen Überfrachtung: Heimaufsicht und Pflegekassen evaluieren weiterhin identische beziehungsweise hochgradig redundante Prüfaspekte, oftmals simultan oder in enger zeitlicher Abfolge. In meinen regelmäßigen Prüfungsbegleitungen zeigt sich zudem deutlich, dass viele Fachkräfte während ihrer Ausbildung unzureichend auf solche Prüfungsszenarien vorbereitet werden. Zwar kompensieren wir diese Defizite innerhalb der compassio durch interne Fort- und Weiterbildungsprogramme, jedoch ist die Ausbildungsqualität an zahlreichen Altenpflegeschulen – nicht allein in diesem Bereich – aus meiner Sicht substanziell optimierungsbedürftig.
Welche Veränderungen wünschen Sie sich in der Pflegebranche?
Zimmermann: Wie bereits dargelegt, besteht ein erheblicher Bedarf, die Qualität der pflegepädagogischen Lehre substantiell zu optimieren. Dies hängt maßgeblich damit zusammen, welche Personengruppen sich als Lehrende bzw. Dozierende zur Verfügung stellen. Selbstverständlich wäre auch ich – aufgrund meiner vollakademischen Qualifikation als Doktor der Gesundheitswissenschaften – bereit, regelmäßig lehrend tätig zu werden. Allerdings müssten hierfür zunächst geeignete institutionelle und strukturelle Rahmenbedingungen etabliert werden, die eine solche Tätigkeit realistisch und nachhaltig ermöglichen.
Wie erleben Sie den Einsatz digitaler Tools in Ihrer Einrichtung – eher als Hilfe oder als Belastung?
Zimmermann: Im Rahmen meines jüngsten Messebesuchs in Nürnberg, habe ich insbesondere die Vielzahl innovativer digitaler Applikationen und Assistenzsysteme einer vertieften Betrachtung unterzogen. Dabei haben sich vor allem die sprachgestützten Pflege- und Dokumentationslösungen als technologisch hochrelevante Entwicklungen erwiesen.
Diese Systeme repräsentieren eine genuine, paradigmatische Innovation innerhalb der pflegerischen Prozesslandschaft. Durch die Integration von automatisierter Spracherkennung, semantischer Analyse und KI-basierter Dokumentationsassistenz besitzen sie das Potenzial, die bislang hochgradig ressourcenintensive Verschriftlichung pflegerischer Leistungen signifikant zu reduzieren.
Darüber hinaus ermöglichen sie eine erhebliche Entlastung des Personals, indem sie redundante Arbeitsschritte minimieren, die Dokumentationsqualität standardisieren und gleichzeitig die Interaktionszeit mit den Pflegeempfängern erhöhen. Insgesamt handelt es sich um eine technologische Weiterentwicklung, die – bei gelungener Implementierung – zu einer nachhaltigen Optimierung der Versorgungsrealität im pflegerischen Alltag beitragen dürfte.
Welche technologischen Entwicklungen könnten Ihrer Meinung nach die Pflege wirklich entlasten?
Zimmermann: Im Kontext der Pflegepraxis stellt die zuvor erwähnte sprachgestützte Dokumentation eine vielversprechende technologische Innovation dar. Sie zeichnet sich durch eine hohe Effizienz und Praktikabilität aus, da sie die strukturierte Erfassung, Speicherung und Verwaltung relevanter Patientendaten systematisch unterstützt und somit die Prozessabläufe innerhalb der pflegerischen Versorgung optimiert. Ergänzend dazu besitzen weitere technologische Assistenzsysteme – beispielsweise automatisierte Trinksysteme, sensorbasierte Wiegematten oder vergleichbare Applikationen – ein Potenzial zur Entlastung des Pflegepersonals und zur Verbesserung der Versorgungsqualität.
KI ist weiterhin ein Buzzword – Welche KI-Lösung würden Sie heute nicht mehr hergeben?
Zimmermann: ChatGPT dient als vielseitiges Unterstützungsinstrument für unterschiedlichste Themenbereiche, unter anderem im Kontext der Fort- und Weiterbildung von Pflege(fach)-kräften. Die Anwendung ermöglicht den Zugriff auf strukturierte Fachinformationen, praxisorientierte Arbeitsmaterialien sowie vorgefertigte Dokumentenvorlagen. Zudem bietet sie Führungskräften die Möglichkeit, fachliche Inhalte gemeinsam mit dem System systematisch zu analysieren, aufzubereiten und für die praktische Anwendung aufzubereiten.
Welche Trends werden Ihrer Meinung nach die Branche am stärksten prägen?
Zimmermann: Von besonderer Bedeutung ist die sprachgestützte Pflegedokumentation, die durch den Einsatz moderner KI-basierter Tools eine erhebliche Entlastung im Pflegealltag ermöglicht. Diese Technologien unterstützen die Fachkräfte dabei, pflegerische Leistungen präzise, effizient und in hoher Qualität zu erfassen, indem sie Spracheingaben automatisch strukturieren, dokumentationsrelevante Informationen extrahieren und in bestehende Dokumentationssysteme integrieren. Dadurch können sowohl der Zeitaufwand als auch die Fehleranfälligkeit reduziert und gleichzeitig die Transparenz sowie Nachvollziehbarkeit der pflegerischen Maßnahmen verbessert werden.
Welche Entwicklungen im Markt beobachten Sie aktuell mit besonderem Interesse?
Zimmermann: Es ist bemerkenswert zu beobachten, welche privaten Träger sich langfristig stabil und nachhaltig entwickeln – und welche, darunter zuletzt auch mehrere größere Anbieter, inzwischen nicht mehr am Markt vertreten sind. Die Gründe hierfür werden mir häufig in Gesprächen mit Einrichtungsleitungen deutlich. Dabei wiederholen sich bestimmte Themen immer wieder: verspätete oder unzureichend geführte Pflegesatzverhandlungen, das Zulassen erheblicher Personalüberhänge sowie vor allem eine nicht zielgerichtete und mangelhaft gesteuerte Qualitätssicherung. Letztere führt oftmals zu längeren Aufnahmestopps oder weiteren behördlichen Einschränkungen, die sich unmittelbar und spürbar auf die wirtschaftliche Stabilität der Einrichtungen auswirken.
Was möchten Sie als Führungskraft in den nächsten Jahren aktiv mitgestalten?
Zimmermann: In meiner Region liegt mein Schwerpunkt darauf, neue Führungskräfte eigenständig zu entwickeln. Das von mir mitgestaltete Trainee-Konzept für Einrichtungsleitungen und Pflegedienstleitungen möchte ich hierbei noch umfassender implementieren. Darüber hinaus strebe ich die verstärkte Einführung innovativer Pflegekonzepte an, beispielsweise zur Weiterentwicklung der Jungen Pflege in meinen Einrichtungen. Nicht zuletzt besteht auch bei der Weiterentwicklung prospektiver Kennzahlen in unserem Unternehmen noch erhebliches Potenzial, das wir weiter ausschöpfen möchten.
