„Wir haben keine Ahnung, wohin wir wollen, aber wir bewegen uns mit hoher Geschwindigkeit darauf zu.“
So lassen sich die aktuellen Bemühungen der Politik hinsichtlich der Pflegereform zusammenfassen.
Am 27. Mai dieses Jahres gab Karl Lauterbach Folgendes an: “Eine umfassende Finanzreform in der Pflege wird in dieser Legislatur¬periode wahrscheinlich nicht mehr zu leisten sein…Dafür sind die Ansichten der verschiedenen Ministerien beziehungsweise der Koalitions¬partner zu unterschiedlich“[1]
Wenige Tage später kündigte der Bundeskanzler an, den Bericht einer Pflegekommission bis zum Ende des Monats vorzulegen. Es ginge um gute Arbeits¬bedingungen und Personalgewinnung, aber auch um die Finanzierung und die Beitragshöhe – „also richtig viel Arbeit, und an die machen wir uns sofort, wenn dieser Bericht jetzt vorliegt.“[2]
Diese Erwartungen wurden vom Gesundheitsminister Anfang Juli allerdings gedämpft, als er die Ausarbeitung eines Konzepts für die große Reform auf die Zeit nach der Sommerpause verschob.
Damit bleibt nun weniger als ein Jahr Zeit eine dringend notwendige Pflegereform zu erarbeiten und zu verabschieden, die verschiedenen Interessensgruppen gerecht wird und korrekt kalkuliert und refinanziert wird.
Es ist daher auch wenig verwunderlich, dass die verschiedenen Interessensgruppen nun reihenweise selbst Vorschläge einbringen – alle natürlich ausschließlich zum Wohl der Pflegekräfte und Patienten.
Vorschläge verschiedener Interessengruppen
So hat die AOK bereits ein Positionspapier veröffentlicht.[3] Neben dem Abbau der Sektorengrenzen und einer einheitlichen Vergütung der verschiedenen Pflegeformen (eine schöne Umschreibung für: Wir möchten gerne Leistungen bei der ambulanten Pflege kürzen) fordert die AOK auch die Aufhebung des Kontrahierungszwangs. Die AOK möchte also zukünftig entscheiden können, mit welchem Heim oder Pflegedienst sie Verträge abschließt.
Der Deutsche Städtetag fordert unter anderem:
„Zulassung und Förderung von Einrichtungen dürfen künftig nur noch nach Zustimmung durch die Kommune erfolgen. Alle im Sozialraum wesentlichen Akteure sind zur verbindlichen Teilnahme an kommunalen Pflegekonferenzen zu verpflichten.“[4]
Dies erinnert an eine Bedarfsplanung wie in den 80er und 90er Jahren. Es ist absehbar, dass die Höhe des Bedarfs stark mit der Finanzsituation der jeweiligen Kommune korrelieren würde.
Politiker der CDU fordern wiederum eine Pflegevollversicherung. Die Mehrkosten hierfür liegen laut Berechnungen des IGES-Instituts – einem Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen – bei 16,5 Milliarden Euro in 2026; Tendenz stark steigend.[5]
Dies ist offensichtlich ein Wahlversprechen an die älteren Wähler der CDU ohne ein solides Refinanzierungskonzept.
Die BeneVit Gruppe propagiert das Konzept „stambulant“ und will die Schaffung einer dritten Säule der Pflegeversicherung. Der Gesundheitsökonom Prof. Rothgang kritisiert diesen Vorschlag wiederum scharf.
Es werden weitere Vorschläge verschiedenster Gruppen unter anderem aus Politik, Pflege, Forschung sowie von Pflegekassen und Kostenträgern folgen, die jetzt ihre Chance sehen ihre Position kurzfristig deutlich zu verbessern.
Doch darum darf es gar nicht gehen.
Pflegebedürftige müssen im Fokus stehen
Die umfassende Reform eines so wichtigen Themas wie der Versorgung unserer pflegebedürftigen Menschen darf nicht mit der heißen Nadel gestrickt werden. Wir sprechen hier von der Generation, die unser Land wiederaufgebaut hat. Sie haben durch harte Arbeit und Entbehrung dafür gesorgt, dass wir heute in einem der reichsten Länder der Welt leben. Wir schulden diesen Menschen, dass wir eine Reform der Grundlage ihrer Versorgung wohlüberlegt planen und finanzieren. Wir schulden es dieser Generation auch, dass wir auf ihre Wünsche hören.
Diese sind klar und deutlich:
Menschen möchten selbstbestimmt, individuell und soweit es geht in ihrer Häuslichkeit versorgt werden. Vier von fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden bereits im eigenen Zuhause versorgt. Trotzdem drehen sich die aktuellen Diskussionen hauptsächlich um die stationäre Versorgung.
Des Weiteren sind die Löhne in der Pflege in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Die mangelnde Angleichung der Kassenleistung führt nun zu hohen Belastungen pflegebedürftiger Menschen. Auch diese Entwicklung ist einem gut gemeinten aber mangelhaft umgesetzten – da nicht refinanzierten – Tariftreuegesetz geschuldet. Im stationären Setting bedeutet dies höhere Eigenanteile in der ambulanten Versorgung und damit rückläufige Leistungsabrufe, da die Budgets der Pflegebedürftigen früher ausgeschöpft sind.
Beide Probleme kann man kurzfristig durch eine deutliche Anhebung der stationären und ambulanten Budgets erreichen.
Dies würde zumindest die benötigte Zeit schaffen, um das Thema der umfassenden Reform der Pflegeversicherung mit der gebotenen Ruhe und Umsicht anzugehen. Eine überhastete Pflegereform ohne solide Refinanzierung dient ausschließlich Einzelinteressen.
Über den Autor
Jan Zimmerschied
Ich beschäftige mich seit mehr als 20 Jahren mit dem Pflegemarkt und bin Gründungsgesellschafter und Geschäftsführer der Onesta Gruppe. In dieser Zeit habe ich ein umfangreiches Netzwerk von Fachleuten und Experten aus dem Markt aufgebaut.
Quellenverzeichnis
[1] Süddeutsche Zeitung (2024): Lauterbach: Zahl der Pflegebedürftigen steigt “explosionsartig”, https://www.sueddeutsche.de/politik/lauterbach-pflege-1.7420180, zuletzt zugegriffen am 07.08.2024.
[2] Süddeutsche Zeitung (2024): Scholz: Pflegereform wird schnell angegangen, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheitsreform-scholz-pflegereform-wird-schnell-angegangen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240530-99-220758, zuletzt zugegriffen am 07.08.2024.
[3] AOK (2024): Positionspapier zur Weiterentwicklung der Pflege, https://www.aok.de/pp/bv/pm/positionspapier-weiterentwicklung-pflege/, zuletzt zugegriffen am 07.08.2024.
[4] Deutscher Städtetag (2024): Zukunftsfeste Versorgung älterer und pflegebedürftiger Menschen in den Städten – Positionspapier des Deutschen Städtetages, https://www.staedtetag.de/files/dst/docs/Publikationen/Positionspapiere/2024/positionspapier-versorgung-pflegebeduerftiger-menschen-staedte-2024.pdf, zuletzt zugegriffen am 07.08.2024.
[5] IGES (2024): Finanzentwicklung der sozialen Pflegeversicherung, www.iges.com , zuletzt zugegriffen am 07.08.2024.
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