In der neusten Ausgabe der „Am Puls der Pflege“ ermittelte die Redaktion die Top 15 Start-Ups in der Pflege – im Rahmen des neuen Rankings führte die Redaktion zudem Interview mit zwei der in den Top 15 vertretenen Start-Ups – der Lindera GmbH und der Media4Care GmbH, beide mit Sitz in Berlin. Um Ihnen die Wartezeit auf das neue Magazin etwas zu verkürzen, finden Sie das Interview mit der Lindera GmbH hier vorab in voller Länge auf unserer Webseite.
Wie kamen Sie auf die Idee eine App zur Mobilitätsanalyse zu entwickeln?
Heinrichs: Je älter wir werden, desto wahrscheinlicher wird es, dass wir irgendwann stürzen. Stürze und ihre Folgen belasten nicht nur den oder die Betroffenen und ihre Familien, sondern auch das Gesundheitssystem, allen voran die Pflege. Dabei hat jeder Mensch den Wunsch, so lange wie möglich mobil und selbstbestimmt leben zu können. So war es auch in meiner eigenen Familie. Meine Mutter hat sich über zehn Jahre lang zusammen mit einer Pflegekraft um meine Großmutter gekümmert. Doch auch das konnte nicht verhindern, dass sie immer häufiger stürzte. Die Risiken so gut wie möglich einschätzen zu können und aktiv Sturzprophylaxe zu betreiben, waren meine Beweggründe, Lindera zu gründen.
Was macht Ihr Produkt einzigartig?
Heinrichs: Kurz gesagt: Präzision ist alles. Unsere auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Mobilitätsanalyse ermöglicht anhand eines 30- bis 40-sekündigen Smartphone-Videos vom Gang eines Seniors oder einer Seniorin eine detaillierte Gangbildanalyse. Das gelingt über unseren Algorithmus und über neuronale Netzwerke, die ein genaues, anatomisch korrektes Bild der Gelenk- bzw. Skelettdaten anfertigen, mit denen wir den Sturzgrad analysieren können. Studien wie die retrospektive Fall-Kontroll-Studie der Charité – Universitätsmedizin Berlin zeigen, dass die Ergebnisse so präzise sind, dass sie sogar den Goldstandard schlagen. Diese Neuartigkeit hat uns jetzt das europäische Patentamt anerkannt.
Wer profitiert von Ihrem Produkt?
Heinrichs: An erster Stelle profitieren natürlich alle sturzgefährdeten Menschen. Sie bekommen von unserer digitalen Gesundheitsanwendung eine genaue Analyse ihres Sturzgrades. Das mag zwar den einen oder anderen erschrecken, hilft aber dabei, die Problematik Sturzgefahr in den Mittelpunkt zu rücken. Die vorgeschlagenen individuellen Maßnahmen zur Prophylaxe können dann mit den professionellen Pflegefachkräften besprochen und in das Trainingsprogramm integriert werden. Jeder verhinderte Sturz bedeutet nicht nur längere Mobilität und Freiheit, sondern spart den Krankenkassen auch bares Geld. Sturzfolgen, wie z.B. ein Oberschenkelhalsbruch, machen mehr als sechs Prozent der Gesundheitskosten bei Menschen 65+ aus. Wir digitalisieren die Pflege und entlasten damit gleichzeitig die Fachkräfte, z.B. senkt die App den Dokumentationsaufwand. Sie haben so mehr Zeit, um sich um die Menschen zu kümmern – ein großer Vorteil, da seit vielen Jahren der Nachwuchs an Pflegekräften fehlt. Wir sind überzeugt, dass die Digitalisierung für neue Attraktivität des Berufsfelds sorgt.
Wie schwer ist es den Anwendern ihre Technologie näher zu bringen?
Heinrichs: Überhaupt nicht schwer. Die App ist an den Nutzerinnen und Nutzern orientiert und einfach zu bedienen. Die Mobilitätsanalyse selbst lässt sich leicht und spielerisch durchführen. Es reicht eine weitere Person, die das Video vom Gang des Seniors oder der Seniorin aufzeichnet. Anschließend muss nur noch ein kurzer psychosozialer Fragebogen z.B. zur Wohnsituation und zum persönlichen Befinden ausgefüllt werden. Das reicht unserer KI schon für eine präzise Analyse samt Empfehlungen zur Sturzprophylaxe. Wir bekommen in der überwältigenden Mehrheit positives Feedback von den Pflegebedürften und auch von den Fachkräften.
Was sehen Sie als bis dato größte Herausforderung als Start-up in der Pflegebranchen?
Heinrichs: Jeden Tag stelle ich bei der Arbeit und im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Start-ups aus dem Healthcare-Bereich fest, wie sehr die Branche in Bewegung ist. Die Digitalisierung der Pflege oder der Gesundheit im Allgemeinen ist überfällig – und wir haben die Potenziale hier bei uns. Wir müssen nicht nach Amerika schauen, auch bei uns in Deutschland und in Europa passiert wahnsinnig viel. Allerdings, und das ist die große Herausforderung, sind wir stark davon abhängig, dass sich die historisch gewachsenen Strukturen der Branche öffnen und Innovationen zulassen. Das passiert an vielen Stellen bereits, wie zum Beispiel bei Korian, Alloheim, den Maltesern oder dem Seniorenwerk. Es hilft uns auch, dass sich die politischen Rahmenbedingungen geändert haben und die Politik verstanden hat, dass wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer alternden Bevölkerung nur schaffen können, wenn wir auch neue, smarte Weg gehen. Von diesem Mut stecken wir Schritt für Schritt mehr Träger, Fachkräfte und Seniorinnen und Senioren an.
Was war die schwierigste Klippe, die sie als junges Unternehmen umschifft haben?
Heinrichs: Unser Gesundheitssystem gilt insgesamt als verschlossen und träge, wenn es um Innovationen geht. Wenn wir uns den Alltag in deutschen Pflegeeinrichtungen anschauen, dann spielen digitale Technologien dort noch keine große Rolle. Dabei können sie eine wirkliche Lösung sein, um Pflegekräfte z.B. bei der Dokumentation zu entlasten, Teamwork zu fördern und wieder mehr Zeit für pflegebedürftige Menschen zu haben. Dennoch war unsere größte Hürde nicht das System, sondern vielmehr die Technologie. Als für mich Anfang 2017 fest stand, dass eine Bewegungsanalyse ohne zusätzliche Sensoren oder Geräte ein Schlüssel ist, um das Sturzrisiko gemäß Expertenstandard zu analysieren, haben Medizinerinnen und Mediziner und Krankenkassen sofort zugestimmt. Nur die Mathematiker von renommierten deutschen Forschungsinstituten sagten mir, dass eine App zur Sturzprävention zwar eine gute Idee, doch technisch nicht umsetzbar sei. Es sei nicht möglich, die 3D-Bewegung eines gehenden Menschen mit einer einfachen Videoaufnahme über das Smartphone zu berechnen. Das wollte ich nicht glauben und habe mir daraufhin mein eigenes Team aufgebaut, das so lange daran gearbeitet hat, bis wir die Lösung hatten. Jetzt zeigen wir mit Fachkräften bundesweit, dass Innovationen nicht erst im Weltraum beginnen müssen und dann als letztes in der Pflege ankommen – sie fangen im Pflegealltag an und werden nun auch von Chefärztinnen- und Ärzten nachgefragt.
Diana Heinrichs ist CEO und Gründerin von Lindera. Zuvor war sie sechs Jahre bei Microsoft Deutschland als PR Professional und Business Development Manager tätigt. Dort hat sie sich für die Zukunft der digitalen Arbeitswelt eingesetzt: Wie schafft Technik es, Generationen nicht länger voneinander zu trennen, sondern besser miteinander zu verknüpfen und näherzubringen? Diesen Gedanken nimmt sie mit Lindera auf: Wie können ältere Menschen länger und selbst bestimmt zu Hause leben? Sie hat Linguistik auf der Schnittstelle zur Psychologie an den Universitäten Bonn, Florenz und Oxford studiert und einen MBA an der Universität St. Gallen absolviert.
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