Mit der jährlichen Auszeichnung Top 40 unter 40 werden junge Führungskräfte in der Pflege aus, die bereits zu den führenden Akteuren der Pflege gehören, wichtige Aufgaben im Pflegemarkt übernehmen und Innovationen vorantreiben. In diesem Jahr zählt auch Marc Urban, Prokurist und Leiter IT bei carpe diem Gesellschaft für den Betrieb von Sozialeinrichtungen mbH, zur Auswahl der Top 40 unter 40. Wir haben in einem exklusiven Interview mit ihm darüber gesprochen, welchen Blick junge Führungskräfte auf die Branche haben, mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert sind und was sie versuchen, anders zu machen.
Was begeistert Sie an der Pflegebranche und wie sehen Sie die Entwicklung des Marktes dieses Jahr und im kommenden Jahr?
Urban: Mit meinem IT Fokus begeistert mich an der Pflegebranche besonders, wie Technologien dazu beitragen können, den Alltag von Pflegekräften zu erleichtern um die Qualität der Bewohnerversorgung zu verbessern. Pflegekräfte leisten täglich herausragende Arbeit, gleichwohl sie in den letzten Jahren immer mehr Arbeitszeit für bürokratische und administrative Aufgaben aufwenden müssen. Hier sehe ich in den nächsten Jahren großes Potenzial, mit innovativen und digitalen Lösungen Prozesse zu vereinfachen, Aufgaben zu automatisieren und dadurch wieder mehr Zeit für die direkte Pflege zu schaffen.
Unser Jahr 2024 war stark durch Investitionen in Digitalisierung und Infrastruktur geprägt. Aufgrund des fortschreitenden Fachkräftemangels und gleichzeitig steigender Nachfrage an Pflegeleistungen geht der Trend auch nächstes Jahr dahin diese Projekte weiter auszubauen. Die Implementierung digitaler, teils automatisierter Prozesse in den Pflegealltag hat höchste Priorität. KI-gestützte Analysen und vernetzte Sensoren werden diese Entwicklung verstärken und einen erheblichen Mehrwert für meine Kolleginnen und Kollegen in der Pflege bringen.
Haben Sie sich bewusst für die Branche entschieden und würden Sie sich wieder dafür entscheiden? Warum?
Urban: Ich bin als Quereinsteiger in der Pflegebranche gelandet. Ursprünglich kam ich aus der Automobilindustrie. Anfangs mit der Pflege (und dem Digitalisierungsstand) noch etwas fremdelnd würde ich diesen Schritt mit meinem heutigen Wissen jederzeit wieder tun. Die Pflegebranche besitzt großes Potenzial, setzt zunehmend stärker auf Digitalisierung und hat enormen Aufholbedarf. Hier sehe ich spannende Wachstumsfelder und die Chance, mit den neuesten Entwicklungen in der Technologie Schritt zu halten und gleichzeitig einen Mehrwert in einer Branche zu schaffen, die unverzichtbar für die Gesellschaft ist. Diese Mischung aus Innovation, sozialer Wirkung und persönlicher Weiterentwicklung macht für mich den Reiz aus, mich jederzeit wieder für eine Position in der Pflege-IT zu entscheiden.
Was sind aktuell die größten Herausforderungen in der Pflegebranche? (z.B. Regulierung, Digitalisierung, Wirtschaftlichkeit, Personal, …)
Urban: Die Herausforderungen sind vielschichtig und eng miteinander verzahnt. Einerseits bedarf es innovativer Lösungen um dem Fachkräftemangel effektiv zu begegnen, gleichzeitig bremst schwerfällige Regulierung und komplexe Refinanzierung die Modernisierung der Infrastruktur. Der demografische Wandel welcher in den nächsten Jahren die Situation zunehmend verschärfen wird ist hinlänglich bekannt. Durch den flächendeckenden Einsatz von smarten Sensoren könnten wir z.B. schon heute unsere Mitarbeitenden deutlich entlasten – jedoch scheitert die Umsetzung oft an der Finanzierung der benötigten Infrastruktur. Darüber hinaus müssen wir gezielt daran arbeiten, das öffentliche Image der Pflegebranche nachhaltig zu verbessern. Ich erlebe es in Gesprächen immer wieder, dass die bemerkenswerten Innovationen in unserem Bereich von Dritten oft nicht wahrgenommen werden. Ich halte es für entscheidend, diese Erfolge sichtbarer zu machen und so die Attraktivität und das Ansehen der Branche zu stärken. Nur durch einen ganzheitlichen Ansatz lässt sich die Pflegebranche zukunftsfähig gestalten.
Welche dieser Herausforderungen werden Ihrer Ansicht nach in 5 Jahren gelöst sein? (z.B. Regulierung, Digitalisierung, Wirtschaftlichkeit, Personal, …)
Urban: Ich bin der Ansicht, dass in fünf Jahren insbesondere die Herausforderung der Digitalisierung weitgehend bewältigt sein wird. KI-basierte Lösungen, wie wir sie heute in den Anfängen sehen, werden sich erheblich weiterentwickeln und durch gesicherte Refinanzierung zum Standard in der Pflege gehören. Ähnlich wie wir dies bei der digitalen Bewohnerdokumentation erlebt haben. Die Telematik Infrastruktur wird sich, in einer für die Pflege angepassten Version, etablieren und die Kommunikation und Datenweitergabe im Gesundheitswesen standardisieren. Diese Maßnahmen werden dazu beitragen, den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten. Wir werden Pflegende von administrativen und routinemäßigen Aufgaben entlasten. Dadurch wird Zeit für die direkte Bewohnerversorgung gewonnen, bestehende personelle Ressourcen effizienter eingesetzt und dem Fachkräftemangel entgegengewirkt.
Was versuchen Sie als junge Führungskraft anders zu machen? Welche Dinge funktionieren dabei gut und welche weniger gut?
Urban: Trial and Error klingt zunächst chaotisch, trifft aber unsere Vorgehensweise ganz gut. Langwierige Pilot- und Leuchtturmprojekte mögen mediale Aufmerksamkeit erzeugen, bieten unseren Pflegekräften jedoch keinen praktischen Nutzen. Projekte müssen selbstverständlich strukturiert geplant werden, um auf einer stabilen Basis zu stehen. Pro und Contra sind abzuwägen, die Finanzierung muss geklärt sein. In der Planungsphase können jedoch nicht alle Eventualitäten berücksichtigt werden, die sich in der Praxis ergeben könnten.
Ich habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht, Projekte frühzeitig in einem kontrollierten Rahmen in der Praxis zu starten und dann agil auf echtes Feedback zu reagieren. Dazu gehört auch, offen und sachlich mit den Stakeholdern über Fehler zu kommunizieren und daraus die richtigen Entscheidungen abzuleiten.
Um dies zu ermöglichen, bin ich sehr froh, auf ein wirklich fähiges und dynamisches IT-Team zurückgreifen zu können. Ohne mein Team wären Projekte wie die, die wir bei carpe diem 2024 umgesetzt haben, nicht möglich gewesen.
Dies funktioniert aber nicht zuletzt durch eine vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit mit unserer Geschäftsführung, für die ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte.
Buzzword KI – Was verstehen Sie darunter und wie kann KI konkret in der Pflege eingesetzt werden?
Urban: Anders als in den Medien präsentiert sehe ich nicht den KI-basierten Pflegeroboter als Lösung. Sicherlich werden wir zunehmend einfache Assistenz- und Reinigungsroboter in Pflegeheimen sehen. Die Pflege bleibt aber weiterhin menschlich. KI sehe ich immer da, wo es um Datenverarbeitung geht. Ein konkretes Beispiel sind die aktuell sich im Markt etablierenden Sprach Doku Apps. Dies ist aber erst der Anfang. Weitere Prozesse und Anwendungszwecke werden folgen und smarter werden. Dabei ist es entscheidend, diese analogen Prozesse nicht 1zu1 in die digitale Welt zu übertragen, sondern sie im Zuge der aktuellen technischen Möglichkeiten grundlegend zu hinterfragen und, wenn nötig, neu zu denken. KI-basierte Auswertung von Bewohnerdaten, Optimieren von Pflegeplanungen sowie die Erkennung von Wunddaten durch Fotoanalysen sind nur einige der Punkte die wir kurzfristig erwarten. Kombiniert mit smarten Sensoren ergeben sich weitere interessante Anwendungszwecke wie z.B. die Sturzerkennung und Prophylaxe. KI wird auch Einzug in die Dienstplanung halten. Diese Maßnahmen werden dazu beitragen die Versorgungsqualität zu steigern und unsere Kolleginnen und Kollegen in der Pflege immens im Alltag unterstützen.
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